Sonntag, 4. Februar 2007
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Auftrieb

DIE ZEIT: Sie werden am 3. Februar sechzig Jahre alt. Sie haben zwölf Romane geschrieben, in denen die Fragmente weiterer Romane oder zumindest komplette Novellen stecken. Man hat Sie als »Postmodernen« eingeordnet, anfangs auch als »Brooklyns Kafka« oder als europäisierten Abweichler vom amerikanischen literarischen Mainstream. Sie haben als Poet begonnen und als Übersetzer Ihr erstes Geld verdient, Sie sind Essayist und seit einigen Jahren auch Drehbuchautor und Filmregisseur. Woher dieser enorme Fleiß?

»Ich lebe jahrelang mit meinen Romanfiguren, ehe ich anfange zu schreiben. Ich kann sie nicht einfach aufgeben«, sagt Paul Auster.

© Thomas Müller / Agentur Focus

Paul Auster: Ich glaube, dass jeder Autor gewissen inneren Zwängen unterliegt. Ich jedenfalls verspüre den ständigen Druck, weiterzuschreiben, weiterzuarbeiten. Jedes Mal, wenn ich etwas abgeschlossen habe, fürchte ich, versagt zu haben. Aus diesem Gefühl der Unzufriedenheit steigt das Bedürfnis auf, es noch einmal zu versuchen. Wie Beckett einmal gesagt hat: Schau zu, dass es besser misslingt (»fail better«). Das ist es, was mich und vielleicht auch meine Schriftsteller-Freunde antreibt – dieses unstillbare Bedürfnis, es richtig zu machen.

ZEIT: Andere Autoren bleiben an einem Buch hängen, ohne je fertig zu werden. Oder sie schreiben zehn Jahre daran, wie zum Beispiel Thomas Pynchon.

Auster: Aber dann legt er über 1000 Seiten vor…

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ZEIT: Sie teilen mit ihm eine besondere Eigenschaft – Sie verlieben sich in das eigene Romanpersonal. Pynchon kann nicht loslassen von seinen Geschöpfen. Darum braucht er so lange, um einen Roman abzuschließen. Und Sie exportieren einige Ihrer Gestalten von einem Buch ins andere, in Bruchstücken und Anspielungen, aber manchmal auch ganz und gar, wie zum Beispiel die hübsche Anna Blume, die den Leser durch das Land der letzten Dinge führt und die nun, zwanzig Jahre älter, in Travels in the Scriptorium(Reisen im Skriptorium, Rowohlt, Juli 2007) als liebevolle Krankenschwester auftaucht.

Auster: Man kann sie nicht einfach aufgeben. Ich lebe mit meinen Romanfiguren durchschnittlich fünf Jahre lang, ehe ich überhaupt zu schreiben anfange. Sie verwandeln sich, und aus Geistgestalten werden richtige Personen. Wenn das Buch dann fertig ist, bleiben diese Charaktere übrig, und ich kann sie einfach nicht mehr loswerden. Sie bleiben in meiner Erinnerung hängen wie unkündbare Untermieter oder wie Geister, die ich nicht vertreiben kann und die doch quicklebendig sind.

ZEIT: Kann man Ihre »Geschöpfe« mit Schachfiguren vergleichen, die Sie je nach Bedarf einsetzen?

Auster: Nein, nein, das genaue Gegenteil ist der Fall. Meine Art zu schreiben ist ein ganz und gar organischer Prozess. Meine Personen machen ganz plötzlich Dinge, die ich nicht kontrolliere. Als mir einmal ein Hollywood-Produzent anbot, meinen Roman Musik des Zufalls zu verfilmen, wollte er, dass ich zwei Personen, die einfach aus dem Text verschwinden, zurückhole. Ich musste ihm sagen, dass das leider nicht geht, die beiden Herren seien nämlich wirklich verschwunden. Er sagte, ich sei doch der Autor, ich könne sie mühelos »zurückschreiben«. Ich sagte ihm, dass ich keine Kontrolle über die beiden hätte, sie sind gegangen, weil sie gehen wollten. Mir wurde klar, dass der Filmproduzent glaubte, verstanden zu haben, was Schriftsteller machen. Aber er hatte sich getäuscht. Es handelt sich eben nicht um eine Art Schachspiel mit verschiebbaren Figuren.

ZEIT: Aber Sie haben doch Charaktere von einem Roman in einen anderen verpflanzt. Diese Art Verwirrspiele sind doch Ihr Markenzeichen…

Auster: Ja, aber es gibt eine Art feste Population meiner Romane, deren Namen in ganz unterschiedlichen Texten auftauchen, in Nebenrollen oder in Hauptrollen – nur sind sie keine Schachfiguren, sondern sie sind immer schon da, mal größer, mal kleiner. Sie leben.

ZEIT: In einem Ihrer Bücher, Die Erfindung der Einsamkeit, ist das Personal buchstäblich lebensecht: Es ist Ihre eigene Familie. Bei den Recherchen entdeckten Sie, dass Ihre Großmutter im Jahr 1919 ihren eigenen Mann erschossen hatte.

Auster: Meine Großmutter starb, als ich zehn Jahre alt war. Sie war nicht gesund, sie war nicht nett, und sie sprach kaum Englisch, sie kam aus Galizien. Ihr Mann sah sehr gut aus. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, Harry Auster zu angeln. Sie war eine kleine Person, unattraktiv, und die beiden hatten schließlich fünf Kinder, von denen zwei starben. Er wurde ihr untreu, die Ehe löste sich auf. Er zog nach Chicago und kam eines Tages nach Hause in diesen kleinen Ort in Wisconsin, wo seine Frau lebte. Er wechselte gerade eine Glühbirne in der Küche, da erschoss sie ihn auf der Leiter. Einfach so. Das Schwurgericht sprach sie frei. Ein Verbrechen aus Leidenschaft, begangen von einer betrogenen Frau. Das war 1919. Sie zog nach Newark, New Jersey, und da ist mein Vater, der das Ganze gesehen hatte, aufgewachsen. Als ich das erfuhr, in den siebziger Jahren, war ich nicht überrascht. Meine Großmutter kam mir immer schrecklich vor, und mein Vater hatte mir bei verschiedenen Gelegenheiten sehr unterschiedliche Geschichten über den Tod seines Vaters erzählt. Er sei von der Leiter gefallen…

ZEIT: …stimmte ja…

Auster: …oder auch bei einem Jagdunfall gestorben oder als Soldat im Ersten Weltkrieg. Also drei verschiedene Tode. Ich ahnte schließlich, was mein Vater durchgemacht haben musste und dass ihn diese Erfahrung – er war ja erst sieben Jahre alt – geprägt hatte. Erzählt hatte er es jedenfalls nie.

ZEIT: Lesen Sie Ihre eigenen Bücher irgendwann einmal wieder?

Auster: Bisher niemals. Aber jetzt kommen sie bei Faber & Faber in England mit einer neuen Grundschrift heraus, und ich lese Korrektur. Das ist schon ein seltsames Gefühl. Bei einigen Stellen weiß ich ganz genau, wo ich war, als ich sie schrieb und was ich mir dabei dachte. Andere Passagen sind mir wirklich völlig fremd, und ich frage mich, ob ich es war, der das in seine Schreibmaschine getippt hat.

ZEIT: Ihre Bücher erscheinen in dreißig Sprachen. Haben Sie irgendeine Vorstellung von Ihren dreißig verschiedenen Identitäten – Auster auf Japanisch oder Türkisch dürfte kaum demjenigen ähneln, den Sie selbst am besten kennen?

Auster: So ist es. Ich lese nur Französisch. Und es hört sich überhaupt nicht nach mir an. Es handelt sich nicht nur um andere Laute. Man denkt auf Französisch anders als auf Englisch. Wenn ich daran denke, wie ich auf Japanisch klinge…

ZEIT: Jedenfalls machen sich »Ihre« Japaner ihren eigenen Reim auf Paul Auster. Sie haben einmal gesagt, dass Ihre Leser auch Ihre Autoren sind. Wie soll man das verstehen?

Auster: Ich glaube fest daran, dass es eine Art Zusammenarbeit zwischen Leser und Autor gibt. Jeder Leser bringt in die Lektüre seine eigene Vergangenheit mit – auch seine Vergangenheit als Leser anderer Bücher. Darin liegt doch der ganze Spaß der Belletristik beschlossen: Nur bei der Lektüre eines Romans können sich zwei total fremde Menschen in größter Intimität treffen – der Leser und sein Dichter. Außerdem – das liegt an meinem Schreibstil – lasse ich dem Leser genug Platz, seine eigene Fantasie, seine eigenen Vorstellungen zu entfalten und sie in die Leerstellen meiner Texte zu stellen. So kann er sie sich zu eigen machen, weil sie sich in seinem Bewusstsein bei der Lektüre buchstäblich in sein Eigenes verwandeln.

ZEIT: Einer Ihrer Kritiker hat einmal in der ZEIT geschrieben, Auster ziehe es vor, seine Romane nicht mit dem Tausenderlei des amerikanischen Alltags zu möblieren.

Auster: Ich besetze eben nicht jede freie Stelle mit Text. Es ist doch interessant, zu beobachten, dass das Gehirn leere Räume immer ausfüllen möchte. Jeder Anfang eines Märchens, meistens karg und knapp, schafft es, die Imagination zu beflügeln. Märchen sind so kraftvoll, weil sie uns auffordern, an der Geschichte mitzuwirken, die Story mitzudenken.

ZEIT: Man kann aber nicht sagen, dass Sie es Ihren Lesern immer leicht machen »mitzumachen«. Ihr jüngstes Buch Reisen im Skriptorium setzt jedenfalls voraus, dass sich die Leser im Auster-Kosmos gut auskennen. Der Held, Mr. Blank, ein alter Mann und offenbar ein vergessener Schriftsteller, findet sich in einer geschlossenen Anstalt wieder, die vielleicht ein Altersheim, vielleicht ein Hospiz oder gar ein Gefängnis ist, und er ist konfrontiert mit seinen körperlichen Gebrechen, seiner Vergesslichkeit und, schlimmer noch, mit den Gestalten seiner eigenen Romane, die er einst in furchtbare Abenteuer geschickt hat. Diese Gestalten sind nun Wiedergänger wie in einem Horror-Roman. Der Text, den wir lesen, ist ein Protokoll seiner, also Mr. Blanks, Ängste, aber vielleicht ist er auch nur das allerletzte Buch von Mr. Blank, den wir uns sehr wohl als einen alt gewordenen Mr. Auster vorstellen können.

Auster: Das Buch ist anders entstanden als die vorangegangenen. Ich wurde wochenlang von einem Bild heimgesucht – ein alter Mann im Schlafanzug mit Pantoffeln, der auf einer Bettkante sitzt, die Hände auf den Knien; er starrt unbewegt auf den Fußboden. Warum sah ich das? Ich wollte das herausfinden, ich wollte keinen Roman schreiben. Bis mir klar wurde, dass ich wahrscheinlich mich selbst sah, im Alter von 80 Jahren. So entstand das Buch. Es geht ums Altern, um das, was mit dem Körper und unserer Vorstellungskraft geschieht. Und es geht um das große Thema unserer Zeit – um Gefangenschaft.

ZEIT: Ihre Bücher beanspruchen aber nicht, eine soziologische Nahaufnahme der amerikanischen Gesellschaft zu sein – anders als John Updikes Mikrobilder des amerikanischen Mittelstands im Abstieg. Sind Sie ein politischer Autor?

Auster: Nun, es stört mich schon sehr, wenn die Literaturkritik zum Beispiel glaubt, Im Land der letzten Dinge sei Science-Fiction. Dem Buch liegen die Wahrheiten der Belagerung von Leningrad zugrunde, darunter furchtbare Episoden von Kannibalismus, aber auch die Tatsachen der Müllentsorgung von Kairo. In anderen Worten: Die moralischen und institutionellen Entgleisungen von Gesellschaften gehören durchaus zum Werkstoff meiner Bücher. Es hat mich zum Beispiel sehr gerührt, dass ein Bühnenautor in Sarajevo während der Belagerung seiner Stadt dieses Buch las und auf seiner Grundlage ein Drama schrieb – das war eines der größten Komplimente, die ich je bekam. Es war schockierend, festzustellen, dass ein Buch, das Jahre zuvor entstanden war, seine reale Widerspiegelung fand – und zugleich bewies das alles, welche Kraft fiktionalem Denken innewohnen kann.

ZEIT: Noch einmal – sind Sie ein politischer Autor?

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Auster: Darauf gibt es zwei Antworten. Erstens – ich war als Student politisch aktiv an der Columbia University. Wir haben Sit-ins zum Vietnamkrieg inszeniert, ich wurde verhaftet – zusammen mit 700 anderen. Ich wollte unbedingt ein Schriftsteller werden – und ich wollte, zweitens, die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge verstehen. Ich hätte mich im sozialistischen Realismus versuchen können, aber die literarischen Produkte dieser Richtung waren furchtbar. Meine Helden waren damals die Surrealisten, André Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault, Paul Eluard. Die waren hochpolitisch, aber ihre Kunst war es nicht. Sie wollten das Bewusstsein ihrer Zeit verändern und damit die Gesellschaft. Meine Bücher sind politisch, im weitesten Sinne – es geht in ihnen zum Beispiel auch um Macht, um die sinnlose Ausübung von Macht, wie etwa in Musik des Zufalls oder in Leviathan.

ZEIT: Ihr Blick auf die USA heute – was ist aus Ihrem Land geworden?

Auster: Ich fühle mich schon seit einiger Zeit schlecht, und es wird von Tag zu Tag schlechter. Immerhin, die amerikanischen Kongresswahlen waren ermutigend, aber wir sind die Zeugen des Untergangs eines Imperiums. Wie konnte dieses Land so intelligent und überzeugend im Zweiten Weltkrieg handeln, und wie konnte dasselbe Land nur so wenig in demselben Zeitraum erreichen – nämlich heute? Noch nie gab es eine Regierung in Amerika, die so weit entfernt war vom Geist des Landes wie diese. Ich bin davon überzeugt, dass die beiden jüngsten Präsidentschaftswahlen gefälscht waren.

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